Geschichte des Schachspiels 1851 |
Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern. Hrsg.: Joseph Meyer. Hildburghausen, Bibliogr. Inst. 1840–1852, 46 Bände Hier: 2. Abt. 7. Band 1851. Dort findet man zum Begriff Schachspiel fast zwanzig Seiten mit mehreren Abbildungen (S. 357-375). Hier wird der Abschnitt "Geschichtliches" von S. 374 bis 375 wiedergegeben.
Dieser ca. 170 Jahre alte Text aus dem Lexikon ist zwar aufgrund heutiger Forschungsergebnisse nicht mehr aktuell, dokumentiert jedoch den Wissensstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts, der bei posthumen Betrachtungen zur Entwicklungsgeschichte des Schachspiels Berücksichtigung finden sollte. Es ist zumindest ein Spiegel dessen, was zu jener Zeit in einem renommierten Lexikon Verbreitung fand. Vieles davon gehört heute in die Abteilung "Märchen und Sagen".
Der im Lexikon abgedruckte Text geht zum großen Teil zurück auf Christian Friedrich Gottlieb Thon (* 3. November 1773 in Kaltennordheim; † 4. Juni 1844 in Erfurt). Thon war Verfasser zahlreicher Sachbücher zu diversen Themengebieten. Für den geschichtlichen Beitrag in Meyers Conversations-Lexicon wurden Texte aus der bei B. Fr. Voigt 1846 in Weimar erschienenen dritten Auflage von Crist. Friedr. Gottl. Thon's Meister im Schachspiel verwendet. Es wurden aber auch Angaben übernommen aus dem Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit ... Hrsg. v. Heinrich August Pierer. Altenburg: 2. Aufl. 1845, Band 26, dort zum "Schachspiel" auf den S. 414-417.
Zur leichteren Lesbarkeit ist der fortlaufende Fließtext aus dem Lexikon nachträglich von mir in einzelne Absätze unterteilt worden. Die alte Rechtschreibung und Schreibweise der Namen wurde beibehalten. Der Text wurde von mir an wenigen Stellen etwas gekürzt, welches durch die drei Punkte ... gekennzeichnet und erläutert wird.
"Ueber den Ursprung des Schachspiels ist viel gestritten worden. Manche
schreiben die Erfindung desselben dem Palamedes vor Troja zu, Andere einem
hindostanischen König der es dem Cyrus mitgetheilt habe. Die Chinesen behaupten,
es schon 172 Jahre vor unserer Zeitrechnung gekannt und gespielt zu haben.
Mindestens war es im 6. Jahrhundert aus Indien nach Persien gekommen, von wo es
sich durch die Araber und Türken in Folge mannichfaltiger Handelsverbindungen,
nächstdem und besonders durch die Kreuzzüge, nach Europa und nach und nach über
die ganze gebildete Welt verbreitete.
Die Gedichte von der Tafelrunde kennen das Schachspiel schon, und zwar als eine
Kunst, worin die Saracenen vorzüglich stark waren. Im Jahr 1477 erschien die
erste Uebersetzung eines im 13. Jahrhundert geschriebenen lateinischen Werks,
worin des Schachspiels ebenfalls gedacht wird. Nach den Arabern ward es um 226
n. Chr. aus Eifersucht auf den König Artaxerxes, der das Bretspiel erdacht, in
Indien erfunden. Daß es morgenländischen Ursprungs, beweist schon die ganze
Spielart und die Benennung der Hauptfiguren. Die Sanskritsprache nennt es
Schthrantsch, ein Wort, welches die Haupttheile eines indischen alten Heeres mit
Elephanten, Fußvolk, Pferden und Streit- oder Sichelwagen anzeigt. Später wurde
diese Benennung von dem persischen Worte Schah oder Schach, d. i.
König, verdrängt, welcher Name dem Spiele in den meisten Sprachen geblieben ist.
Eine bekannte Sage schreibt die Erfindung dem Brahminen Sissa (400 v. Chr.) zu, welcher dem König Schachram, der das Volk zu wenig achtete, durch dies Spiel die Lehre habe geben wollen, daß ohne die Anstrengung des Volks ein Monarch nichts sey. Der König war über die Erfindung so entzückt, daß er dem Sissa erlaubte, sich eine Gnade auszubitten. Sissa stellte darauf die scheinbar lächerliche Forderung, daß man ihm auf das 1. Feld des Schachbrets ein Weizenkorn, auf das 2. Feld deren 2, auf das 3. Feld 4, auf das 4. Feld 8 (=4x2) Weizenkörner und so fort in geometrischer Progression bis zu dem 64. Felde lege und den Betrag des Ganzen ihm schenke. Der König hielt das Geschenk für zu gering, war aber im höchsten Grade erstaunt, als er vernahm, daß alles Getreide, welches je auf der Erde erbaut worden, die verlangte Masse Getreide nicht hergeben würde. Denn das Resultat der Forderung gab die erforderlich Anzahl Weizenkörner auf 18,446,744,073,709,551,616 in fast 15 Billionen Kubikfuß ... (Anm: es folgen im Lexikon vergleichende Maßangaben, die Umrechnungen in Thalerstücke, deren Fläche viermal so groß wie die Erdoberfläche wäre).
In Skandinavien war das Schachspiel oder ein ähnliches Spiel (Skak) schon in den ältesten Zeiten bekannt und die Saga's gedenken desselben als Zeitvertreib der Helden öfter. Die Römer lernten das Schachspiel bei ihren Kriegen in Afrika kennen, und ihr Ludus latronum oder latrunculorum war, wenn nicht das Schachspiel selbst, doch ein diesem sehr ähnliches Spiel. Es gehörten zu demselben 32 Steine (Calculi, Latrones, Latrunculi ... Anm.: griechische Bezeichnungen wurden weggelassen), von denen die Hälfte weiß, die andere schwarz oder roth war. Sie bestanden für jede Partei aus 2 Offizieren, 2 Elephanten, 2 Reitern, 2 Trabanten, 8 Fußgängern (daher die Steine zusammen auch Milites hießen) und waren entweder Culculi ordinarii, die gerade aus und zur Seite gezogen wurden, oder Calculi vagi, die mehr Freiheit in ihrer Bewegung hatten. Sie wurden auf dem Spielbret in 2 Abtheilungen aufgestellt und dann so gezogen, daß sie der Gegner nicht schlagen (capere) konnte. Waren 2 Steine ungesetzlich zugleich gezogen, so blieben sie das ganze Spiel über auf ihrer Stelle stehen (Calculi inciti). Wer alle feindlichen Steine genommen oder fest gemacht hatte, hatte gewonnen und hieß Imperator.
Das Schachspiel wurde darauf in Europa so ziemlich vergessen. Doch spielte es Karl der Große mit Leidenschaft; das Spiel, dessen er sich dabei bediente, wurde in der Abtei von St. Denis bei Paris aufbewahrt. Durch die Saracenen ward es in Spanien und Konstantinopel wieder heimisch. Tamerlan liebte es und gab dem Schachbret 110 Felder. Auch andere Könige und Feldherrn suchten und fanden im Schachspiel Erholung. Don Juan d'Austria spielte mit lebenden Figuren; ein Kaiser von Marokko nahm Sklaven dazu und schlug allen geschlagenen Figuren eigenhändig die Köpfe ab. Karl XII. von Schweden, jener rauhe nordische Krieger, der seine Unterthanen durch die strengsten Verbote und härtesten Strafen von Müssiggang, Luxus, Spiel und Schwelgerei abzuhalten suchte und alles das haßte, was sonst Königen und Fürsten zur Belustigung und Veränderung diente, führte nicht nur ein Schachspiel mit sich, sondern empfahl das Spiel auch seinen Offizieren.
Friedrich II. v. Preußen war ein leidenschaftlicher Schachspieler und spielte mit seinem Bruder Heinrich im Felde gelegentlich durch Kouriere. Trotz seiner Meisterschaft mußte er aber einst die Demüthigung erfahren, von seinen Bauern zu Ströbeck (einem Dorfe bei Halberstadt) besiegt zu werden. Die Einwohner dieses Dorfes spielen schon seit 3 Jahrhunderten das große Schachspiel mit seltener Fertigkeit, eine Erscheinung, die um so mehr zu bewundern ist, als dieses so vieles Nachdenken erfordernde Spiel unter den niedern Ständen, wenigstens in Deutschland, eben keine großen Liebhaber und Verehrer findet. Der Sage nach war es ein Bischof, der, anfangs daselbst als Privatmann lebend, die Landleute aus eigener Neigung mit diesem Spiele bekannt machte und sie später als Bischof von allen gewöhnlichen Abgaben befreite, unter der Bedingung, daß sie, dazu aufgefordert, mit Jedem eine Partie Schach spielen müßten und so lange im Besitze dieser Gerechtigkeit verbleiben sollten, als sie kein Spiel verlören. Daher soll in Folge dieser Sage alljährlich ein Abgeordneter von der königl. preußischen Regierung in Ströbeck sich einfinden und mit einem Bauer vor öffentlich versammelter Gemeinde ein Schachspiel unternehmen. Verliert der Emissär, welches angeblich bis jetzt noch immer der Fall gewesen, weil die umstehenden Bauern das Recht haben, ihrem Stellvertreter in kritischen Fällen mit dem Zurufe "Nachbar mit Rath!" ein Warnungszeichen zu geben, so bleibt es bei dem Alten, und es wird dem besiegten Gegner bloß ein Becher voll gezählter Kupfermünze mit den kurzen und lakonischen Worten: "Und damit Gott befohlen!" überreicht. Auch Friedrich II., der nur zu überwinden gewohnt war, mußte dieses "Und damit Gott befohlen!" hören und den Bauern das Feld überlassen. Anm.: Bitte lesen Sie zum Vergleich auch meinen ausführlichen Beitrag zur Geschichte des Schachspiels im Schachdorf Ströbeck
Gustavo Seleno - Das Schach oder König-Spiel - Titelblatt 1616
Der Herzog August von Braunschweig-Lüneburg gab unter dem Namen Gustavus Selenus das vollständigeste Werk über das Schachspiel (Steganographie, Lüneburg 1624) heraus. Andere berühmte Schachspieler neuerer Zeit waren Gioachino Greco in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts, der Araber Philipp Stamma, der bis jetzt noch von keinem Nebenbuhler erreichte Franzose André Danican Philidor, der 1780-90 in London als Schachspieler erster Größe glänzte, der Italiener Peter Carera (Anm.: richtig ist: Pietro Carrera, * 12. Juli 1573 in Militello in Val di Catania; † 18. September 1647 in Messina), der Engländer Ad. Jul. Th. Fielding (Anm.: Adolph Julius Theodor Fielding ist das Pseudonym des Berliner Arztes und Apothekers Christian Gottfried Flittner, * 6. Juni 1770 in Düben; † 6. Januar 1828 in Berlin) ferner Elias Stein († 1812 im Haag), Ebeling in Hamburg, ein geborner Hildesheimer (Anm.: Christoph Daniel Ebeling, * 20. November 1741 in Garmissen bei Hildesheim; † 30. Juni 1817 in Hamburg), Klopstock, der Sänger des Messias, W. von Kempelen, ein Ungar von Geburt, der Erfinder der Schachmaschine, Dr. Martinsen aus Lüneburg (Anm.: Dr. Theodorich Martinsen), und viele Andere.
Neuerdings machte der Major von Latourdomnay (Anm.: Schreibweise im Lexikon bei Pierer 1845; gemeint ist wohl Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais) zu Paris Aufsehen, der z. B. 2 Partien Schach auf einmal, ohne ein Bret zu sehen, bloß aus dem Gedächtniß spielte und beide gewann. Einer der größten Schachspieler der Gegenwart ist der Engländer H. Staunton. Zur Erhaltung des Schachspiels tragen die Schachklubbs, geschlossene Gesellschaften, wo nur Schach gespielt wird, und deren in London, Paris, Leipzig etc. existiren, viel bei. Ein solcher Klubb spielt zuweilen eine Partie mit einem andern Klubb in den Zeitungen, wie in neuerer Zeit in der "Illustrirten Zeitung", die überhaupt dem Schachspiele vorzügliche Aufmerksamkeit widmet. Auch durch elektromagnetische Telegraphen ist in England versucht worden, Schach zu spielen. In neuester Zeit hat man sogar ein Schachturnier nach London ausgeschrieben, zu dem die Schachspieler aus der ganzen Welt eingeladen wurden, und das sich den Zweck setzte, eine Konferenz der größten und einsichtigsten Schachspieler der Welt zusammen zu bringen, um die Regeln des Spiels übereinstimmend endgültig für die ganze Welt aufs Neue festzustellen, und dann um Preise zu kämpfen."
Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais (* 1795, 1796 oder 1797 auf der
Insel La Réunion, † 1840 in London).
Er galt als einer der stärksten französischen Schachspieler seit François-André
Danican Philidor (1726-1795)
Zusammengestellt und mit Fotos und Anmerkungen versehen von Elke Rehder, Juni 2018