Mnemotechnik im Schachspiel |
Paul Morphy während seines mnemonischen Acht-Partien-Spiels zu Paris. 1858
Holzstich aus Illustrirtes Familien-Journal. Eine Wochenschrift zur
Unterhaltung und Belehrung. Zehnter Band, 1858, Nr. 266, S. 405: Eine Gedächtnisprobe.
"Gedächtnis ist das Vermögen des menschlichen Geistes, Vorstellungen und Gedanken
aufzubewahren, um sie willkürlich durch die Erinnerungskraft wieder in das
Bewusstsein zurückzurufen, wobei jedoch zu bemerken ist, dass nur selten ein
Individuum Gedächtnis für alles hat, sondern die Fasslichkeit und Bestimmtheit,
mit welcher Jemand sich positive Vorstellungen aneignet, fast immer von dem
Verhältnis zu seiner weiteren Gedankenkette bedingt ist. So wird der
Geschichtsforscher am leichtesten Jahreszahlen, der Rechnungsbeamte Ziffern oder
Mathematicus Formeln merken, während das Auswendiglernen vieler
verschiedenartigen Dinge den Kreis unserer Vorstellungen erweitert und in so
viele Anknüpfungsverhältnisse leitet, dass endlich dadurch eine Verwirrung
entsteht, die sich nicht klar durchschauen lässt.
Es gibt indessen auch Personen, die von der Natur mit einer außerordentlichen Gedächtnisstärke ausgestattet sind. So erzählt uns die Geschichte, dass Themistokles zwanzigtausend Athener beim Namen zu nennen wusste, dass Mithridat siebenundzwanzig Sprachen konnte, Cäsar und Kaiser Napoleon zugleich mehre Briefe verschiedenen Inhalts diktieren und Scaliger den Homer in drei Wochen auswendig lernte. Der Mathematiker Wallis merkte sich eine Reihe von fünfzig Zahlen und berechnete, in einer finstern Kammer stehend, deren Quadratwurzel, und Donella – wusste das ganze Corpus juris Wort für Wort herzusagen, während Leibniz und Euler die Aeneide auswendig lernten, und der Rechenkünstler Dase (Anm.: d. i. der Mathematiker Georg Dasen * 1568 in Sternberg; † 27. April 1643 in Rostock) staunenswerte Aufgaben löste. Ob diese hier genannten Gedächtnishelden sämtlich in die Geheimnisse der Mnemonik (Anm.: Merkhilfe, Gedächtniskunst) eingeweiht waren, dürfte sich schwer ermitteln lassen, in neuerer Zeit jedoch ist diese äußerst wichtige und interessante Kunst, welche schon der griechische Dichter Simonides kannte, vielfach gepflegt worden. Von diesem wird erzählt, dass er bei einem Gastmahle des Skopas von der Tafel weg auf den Vorsaal gerufen wurde, und als er wieder in den Speisesaale zurückkehrte, dort die Decke eingefallen und sämtliche zahlreiche Gäste erschlagen fand. Simonides erkannte die bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Leichen durch die Erinnerung, wie sie nach der Reihe gesessen hatten, und verfiel dadurch auf die Idee der Mnemonik, in welcher er später höchst merkwürdige Proben abgelegt haben soll. Diese Kunst stand mit der römischen und griechischen so eigentümlichen Beredsamkeit in naher Verbindung. Spätere Versuche, die Gedächtniskunst wieder zur Geltung zu bringen, waren erfolglos, erst Conrad Celtes (Anm.: d. i. der Humanist Conrad Celtis 1459–1508) und Hans Schenkel (Anm.: d. i. der niederländische Philologe Lambert Thomas Schenkel 1547–1625) stellten die seit Quintilian in Verfall gekommene Gedächtniskunst wieder her und vereinfachten sie durch erleichternde Methoden, doch spielten sie dabei eine Art von Zauberern und Hexenmeistern, reisten in der Welt umher und verursachten großes Aufsehen. Der Pfarrer Kästner und Herr von Aretin traten zu Anfang dieses Jahrhunderts mit neuen oder doch wenigstens sehr veränderten Methoden hervor und ihnen folgte der Geistliche Fainaigle, sowie der originelle Aimé Paris, Joseph Feliciano und Castilho, welche 1832 in Frankreich Proben ihrer Kunstfertigkeit ablegten. In Deutschland trat Graf Mailath mit einem nicht eben neuen Systeme hervor, 1840 aber erschien der Däne Otto Reventlow, welcher die Mnemonik auf eine hohe Stufe der Ausbildung brachte, worin Hermann Kothe, sein würdiger Nachfolger war. Letztere Beide haben Lehrbücher der Mnemotechnik geschrieben.
Die Kunst, das Gedächtnis zu beherrschen und es umfassend, treu und fest zu machen, gründet sich auf Ideenassoziationen, indem man nicht die Gegenstände selbst in der Erinnerung festhält, sondern die wichtigsten Vorstellungen und Wendungen der festzuhaltenden Bilder im Zusammenhang mit anderen Dingen bringt und diese als Erinnerungsmerkmale benutzt. Der Versuch, Mnemonik, und namentlich Otto Reventlow's System auch beim Unterricht der Jugend in Anwendung zu bringen, hat sich nicht bewährt, indem diese Methode bei ihrer Anwendung mehr die Phantasie, als den Verstand in Anspruch nimmt, und deshalb den Geist der Jugend nicht in die Tätigkeit versetzt, welche die wissenschaftliche Gangart verlangt.
In die erste Reihe aller hier genannten durch ungeheure Gedächtniskraft ausgezeichneten Menschen gehört nun aber ohne Zweifel ein junger einundzwanzigjähriger Amerikaner, Paul Morphy, welcher erst vor wenigen Monaten einen wahrhaft fabelhaften Erfolg seiner Fertigkeit gefeiert hat, indem er zu Birmingham und Paris in Gegenwart einer zahlreichen Versammlung gegen acht der ausgezeichnetsten Mitglieder des Schachclubs gleichzeitig, ohne ein Schachbrett zu sehen, acht Partien aus dem Gedächtnis spielte. von welchen er beide Male sechs gewann, ein gewiss staunenswerter Fall. Allerdings hatte der ebenfalls tüchtige Schachspieler Paulsen kurz vorher noch mehr Partien aus dem Gedächtnis gespielt, er durfte jedoch bei diesem Kampfe, der mehre Sitzungen hindurch währte, das Schachbrett zu Hülfe nehmen und dadurch die Erinnerung unterstützen, während Morphy dies nicht tat und seine acht Spiele beendigte, ohne auch nur einen Augenblick den Stuhl zu verlassen. Noch bedeutungsvoller wurden diese Tatsachen durch den Umstand, dass der Amerikaner Morphy kaum über einen Zug nachdachte, und wenn ein solcher ihm unrichtig genannt wurde, denselben sofort verbesserte.
Es wird berichtet, dass nach dem Birminghamer Schachkampfe bei Lord Lyttleton, dem Präsidenten des Schachclubs, ein Gastmahl stattfand, wo der Lord der bewundernswürdigen Fertigkeit des amerikanischen Kämpfers eine begeisterte Lobrede hielt und die Hoffnung aussprach, dass Morphy künftighin alle Gegner mit gleicher Gewandtheit aus dem Sattel werfen möchte, wie es heute geschehen sei, nur wünsche er als guter Patriot, dass dies Schicksal nicht Herrn Staunton, den berühmtesten Schachspieler Englands, treffen, sondern dieser den Amerikaner besiegen möge.
Über Paul Morphy's Vergangenheit ist noch zu bemerken, dass er in Neuorleans geboren wurde und durch seinen Vater, der ein großer Freund vom Schachspiel war, diese Kunst sehr zeitig erlernte, so dass er schon in seinem dreizehnten Jahre für einen tüchtigen Kämpfer galt und dabei besondere Eigentümlichkeiten entwickelte. So war es zum Beispiel seine Lieblingsmethode, alle Bauern abzutauschen oder Preiszugeben, um den Figuren einen freien Wirkungskreis zu verschaffen, worauf er dann mit denselben rüstig vorwärts ging und den Gegner bald zur Niederlage zwang. Die tüchtigsten Spieler versuchten sich mit ihm zu messen, aber mit wenig oder gar keinem Erfolg. Er besiegte Löwenthal, Meek (Anm.: d. i. Alexander Beaufort Meek 1814–1865), Rousseau, Ernst Morphy, Ayers und M'Connel, kämpfte ebenbürtig mit Staunton und Horrwitz, warf mit Leichtigkeit die berühmten Schachspieler Bird, Barnes und Lowe und gedenkt auf Europas Boden noch manchen siegreichen Strauß zu bestehen. – Ist denn kein Dalberg da?" (Anm.: Karl Theodor von Dalberg 1744–1817)
"Das Blindspiel". Illustration von Stanislaw Rejchan (1858-1919) aus der
illustrierten Zeitschrift "Moderne Kunst in Meisterholzschnitten", Richard Bong,
Berlin 1892, Seite 71.
Siehe auch Louis Paulsen - Düsseldorfer Schachkongress 1862
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