Schach ist wie das Leben - Gedanken von Elke Rehder |
Analogien und Parallelen zum Schachspiel
Der nachfolgende Beitrag von Günther Nicolin ist gleichzeitig die Einführung zu meinem Buch "Schach - Spiegel der Gesellschaft", erschienen 1992 im Schachverlag Arno Nickel, Berlin. ISBN 3-924833-26-5.
Fernando Arrabal, der spanische Dramatiker, konstatierte während des Weltmeisterschaftskampfes Bobby Fischer gegen Boris Spassky (1972 in Reykjavik):
"Schach ist nicht wie das Leben ...Näher betrachtet: Arrabal begnügt sich nicht damit, das Schachspiel im Vergleich zum Leben zu sehen, sondern er sieht es als Analogie für das Leben insofern, als eine Gleichheit von Verhältnissen besteht. Für den Dramatiker Arrabal liegt es dann nahe, auch die Parallele zum Theater zu ziehen.
Die künstlerischen Reflexionen Elke Rehders zum Thema Schach gehen in eine sehr ähnliche Richtung.
Bemerkenswerterweise wurde die Künstlerin durch die Beobachtung einer Freiluftschachpartie zu ihrer Beschäftigung angeregt. Wird die gewöhnliche Schachpartie sitzend und fast bewegungslos - die Spieler brüten vor sich hin - gespielt, so muss beim Freiluftschach das Spielfeld betreten werden, die Figuren müssen von Feld zu Feld getragen werden, um die jeweiligen Züge zu realisieren. Die geistige Auseinandersetzung der Spielenden gewinnt zusätzlich an Dynamik und Leben. Zudem wird in der Öffentlichkeit gespielt; Schach wird gewissermaßen zu einer "res publica", zu einer öffentlichen Sache.
Elke Rehder begreift das Schachspiel als Spiegelung des gesellschaftlichen Lebens in der geschichtlichen Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart: hierarchische Systeme, Klassengesellschaften werden sichtbar - Konkurrenzsituationen wie zum Beispiel in der Arbeitswelt (Problemlösungen suchen, zielorientiertes Arbeiten, Ausschalten störender Faktoren, Durchsetzen eigener Vorstellungen, Eliminieren eines Mitbewerbers) entstehen, das Schachbrett wird zum sozialen Experimentierfeld in der Vielzahl der Möglichkeiten gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinanders.
Bei näherer Betrachtung der Schachbilder Elke Rehders, die in Mischtechnik auf Papier oder mit Acryl auf Leinwand gemalt sind, fallen einige signifikante Besonderheiten ins Auge. Von der Spielsituation des Schachs wird insofern abstrahiert, als die Kontrahenten des Spiels nicht dargestellt werden; die Künstlerin verzichtet bewusst auf die Pose der beiden Schachspieler, vor allem auf ihre spielgestaltende Dominanz. Allein das Spielfeld und die Spielfiguren (= soziales Experimentierfeld) werden in den Blick genommen; die Figuren gewinnen Eigenleben: die Könige verhandeln miteinander, der Läufer tänzelt über das Schachbrett, die Bauern - mit Lanzen bewaffnet - sind fast immer präsent, von der Künstlerin in einem herausfordernd leuchtenden Rot markiert.
Die Titel der Bilder - eine weitere Besonderheit - sind zumeist der Schachterminologie entnommen, so "Die Eröffnung", "Drachenvariante", "Springer schlägt Turm", "Remis" usw. Was aber auf dem jeweiligen Bild dargestellt ist, entspricht keineswegs dieser Terminologie etwa im Sinne einer Diagramm-Aufstellung. Vielmehr sehen wir eine Lebenssituation oder, anders gesagt, eine Spielszene "genau wie das Theater" (Arrabal).
Einige Beispiele:"Die Eröffnung" - Der Blick des Betrachters fällt durch eine geöffnete Tür, die von einer Bauernfigur gesichert wird, auf den Teilbereich eines Schachbretts, auf dem in einiger Entfernung unscheinbar zwei weitere Figuren auftauchen. Dominierend die Gestalt des Bauern im Vordergrund; ohne ihn ist die Eröffnung unmöglich, wie ja bekanntermaßen im Schachspiel auch. Ins Gesellschaftliche gewendet, besagt das: ohne die Basis (= die Bauern) geht nichts.
Wesentlich beteiligt sind die Bauern, vier an der Zahl, in der "Drachenvariante". Die "Drachen dieser Welt" sind der Solidarität der Bauern nicht gewachsen. Verendet liegt ein Drache in seinem Blut.Von besonderem Reiz die Bildkomposition "Springer schlägt Turm". Der Kobold unter den Schachfiguren, der Springer, hat es, unorthodox in seinem Vorwärtsdrang, geschafft, den im Hintergrund postierten Turm, diese Stütze der Gesellschaft, zu überwältigen. Die gesellschaftliche Avantgarde obsiegt über das verkrustete, sich in festen Bahnen bewegende Establishment. Im Linienwerk dieses Bildes ist der entscheidende Zug zu entdecken: roter Punkt als Ausgangspunkt - einmal diagonal - einmal gerade - Zug mit Schlagwirkung = rotes Kreuzchen.
Und zuletzt die Könige in "Remis". Eine absurde, eine unmögliche Situation in einer ernst zu nehmenden Schachpartie, dass die Könige auf dem Schachbrett übrigbleiben. In der Tat, im vorliegenden Bild stehen sie nicht auf dem Schachbrett, sondern hocken auf einer Waage. Im gesellschaftlichen Kontext heißt das: Gewogen und zu leicht befunden.
Es ist ein bezauberndes Spiel in Form und Farbe, das Elke Rehder in ihren Schachbildern entwirft. Der tiefere Sinn ihrer künstlerischen Aussage bedarf der Entschlüsselung - ein Weg führt in die gesellschaftskritische Dimension.
Nach einem Text von Günther Nicolin, Königswinter für die Fachzeitschrift "Illustration 63", Verlag Curt Visel, Memmingen, November 1998.
Der nachfolgende Artikel von Dr. Gerhard Stübner erschien in "Graphische Kunst" Internationale Zeitschrift für Buchkunst und Graphik. Neue Folge: Heft 2 / 2008.
Schach ist nach Stefan Zweig eine Mathematik, die nichts errechnet; eine Kunst ohne Werke; eine Architektur ohne Substanz. Und dennoch übt dieses im 6. Jahrhundert n. Chr. entstandene Kampfspiel eine bis heute andauernde Faszination aus, weil Grundelemente menschlichen Denkens und Handelns, die in seinen Spielregeln formalisiert sind, zeitlose Gültigkeit und Aktualität besitzen. Die Regeln als konservative Struktur bilden die Basis. Aber was sich auf dem Schachbrett während des Spiels daraus formt, sind dynamische Ordnungszustände durch die unendlichen Möglichkeiten der Züge. Entscheidend für den Ausgang ist die Gestalthaftigkeit des Denkens, die den Spieler befähigt, seine Strategie permanent an den realen Erfahrungen zu überprüfen und vorausschauend seine eigenen, aber auch die Chancen des Gegners zu sehen und danach zu handeln.
Die Künstlerin Elke Rehder wurde auf das Spiel aufmerksam, als sie einmal bei einer Freiluftpartie in einem Park zuschaute. Hierbei müssen im Gegensatz zu gewöhnlichen Schachpartien – bei denen sich die Spieler meist reglos gegenübersitzen – die Akteure die Figuren von Feld zu Feld tragen, um die Züge auszuführen. Sie scheinen dabei mit den Figuren auf dem Brett unauflöslich verbunden.
Für Elke Rehder wurde dies zu einem Wahrnehmungserlebnis von symbolischer Prägnanz und Anlass für die geistige und künstlerische Auseinandersetzung mit dem Spiel. Doch sportliches Interesse erwuchs daraus nicht. Ihre Aufmerksamkeit gilt den Spielfiguren, nicht den Spielern. In den hierarchischen Strukturen und in der Strategie des Spiels sieht sie Ähnlichkeiten zu Situationen im wirklichen Leben, die sie bildnerisch in Szene setzt. Die Figuren entwickeln dabei ein Eigenleben und werden in ihrem Zusammenspiel zur Metapher für gesellschaftliche Phänomene.
Die Künstlerin hat ihre eigene Symbolsprache entwickelt, indem sie jeder Figur eine Farbe zuordnet. Alle Bauern sind in Rot dargestellt. Für Elke Rehder steht die rote Farbe für Aktivität und Vitalkraft. Die Läufer (engl. the bishop) tragen immer eine Mitra (Bischofsmütze). Wie der Turm, sind sie in schwarz-gelber Farbkombination dargestellt, wobei Gelb als Warnfarbe auch als Symbol für Ideologien steht. Schwarz ist die Farbe der Anarchie. Die Kombination beider Farben signalisiert Gefahr. Im Falle des Turms besteht sie im unerbittlichen Geradeausdenken. Mit seiner Masse – Sinnbild für konservative Strukturen – überwalzt er alles, was sich ihm in den Weg stellt. Was der Turm nicht wegräumen kann, übernimmt der Läufer, Symbol für kirchliche Macht und Garant für die konsequente Durchsetzung von Ideologien. Der in blauer Farbe dargestellte Springer steht für das Avantgardistische, das Unangepasste, das Neue. Der König vereinigt alle Farben des Regenbogens in sich. Eine schillernde Gestalt; prächtig, plump und relativ unbeweglich.
Betrachtet man die Holzschnitte und Radierungen näher, so fallen einige Besonderheiten auf, die nicht im Einklang mit den Schachregeln stehen. Denn neben der ihr eigenen Farb- und Bedeutungssymbolik entwickelt die Künstlerin Figurenkombinationen, die Analogien zum wirklichen Leben aufweisen.
Springer schlägt Turm. Die bewegliche Gestalt des Springers räumt den massigen Turm aus dem Feld. Neues, nach vorn gerichtetes Denken obsiegt über verkrustete Denkstrukturen.
Bauern
bedrohen den König.
Der untersten Kaste in der Schachhierarchie – den Bauern – ist
es gelungen, den König zu bedrohen und eventuell matt zu setzen.
Der König als Einzelfigur – ohne seine Vasallen – hat kaum
noch Bewegungsmöglichkeit. Er kann sich nicht mehr befreien.
Historische Ereignisse der Weltgeschichte kommen in den Sinn.
Der Kampf. Bauern stehen sich feindlich gegenüber. Probleme des Alltags können der Grund sein, aber auch weil sie von den Mächtigen dazu aufgehetzt wurden. Eine andere Weltanschauung und geschürter Hass genügte, um Millionen in den Tod zu schicken, wie die Geschichte zweier Weltkriege und zahlreicher Diktaturen zeigte, wobei der Gegner kein persönlicher Feind ist, aber zum Feind gemacht wird, weil er anders denkt.
Remis. Eine absurde Situation. Zwei in buntschillernde Gewänder gekleidete Könige sitzen sich nicht auf dem Schachbrett, sondern auf Waagschalen gegenüber. Die Waage ist ausgeglichen; d. h. die Machtverhältnisse sind gleich.
Irrationale Stellung. Die Künstlerin irritiert mit einer Darstellung, die es im Schachspiel nicht gibt. Eine Bauernfigur ist oberhalb, eine andere unterhalb des Schachbretts positioniert. Ein Gedankenspiel jenseits der Realität, das alle Grenzen bisheriger Kombinationsmöglichkeit des Schachs sprengen würde. Der menschliche Geist wäre mit Sicherheit überfordert, ein Spiel nach solchen Regeln zu spielen. Das Bild ist daher Synonym für unendliche Denkmöglichkeiten. Übertragen auf die Gesellschaft bedeutet es, dass nicht alle Aspekte des Zusammenlebens bzw. der menschlichen Gemeinschaft planbar, voraussehbar oder logisch nachvollziehbar sind, weil der Mensch die innere Freiheit hat, sich gegen Regeln zu verhalten und Dinge tun kann, die außerhalb bestehender Normen liegen.
Der Bauer ist schwach. Zwischen den Blöcken der weltlichen Macht (Turm) und der kirchlichen Macht (Läufer) ist der Bauer eingeknickt. Seine Lanze ist gesenkt, denn es hat für ihn keinen Sinn mehr zu kämpfen. Er muss die eigene Machtlosigkeit erdulden.
Läufer nach b3. In der Radierung "Läufer nach b3" ist die Situation ähnlich mit der Ausnahme, dass der Bauer sich zur Wehr stellt. Er weiß noch nicht, dass er chancenlos ist.
Ist Schach ein Spiegel des Lebens oder gar das Leben selbst?
Elke Rehders Bilder können darauf bedingt Antwort geben, da im Schach moralische, religiöse oder politische Überzeugungen keine Rolle spielen. Die Künstlerin geht in ihren Gedanken und Bildern weit über die Schachregeln hinaus. Mit eigener Farb- und Bedeutungssymbolik, die sie den unterschiedlichen Figuren zuordnet, erschafft sie ein Spiegelbild der Gesellschaft. Sie hinterfragt die Grundstrukturen hierarchischer Systeme und formt einen Spannungsbogen, der sensibel macht für neue Sichtweisen. Die 64 Felder des Spiels reichen dafür nicht aus. Mit ihren Bild-Ideen eröffnet sie neue Denkräume, indem sie die Wirklichkeit surreal verfremdet, um sie zu verdeutlichen und Widersinniges zeigt, um die Vernunft zu provozieren. Eine künstlerische Aussage in Form, Farbe und Wort, die in eine Sphäre führt und deren Weite noch nicht abzusehen ist.
Nach einem Text von Dr. Gerhard Stübner in
"Künstlerbücher und Grafik von Elke Rehder im Bestand der
Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover", 2006.
Im Vorbereitungsgespräch sagte Elke Rehder sinngemäß: "Wir machen keine reine Schachausstellung, aber am Schach kommt man nicht vorbei!" Im Gespräch wird weiter deutlich, was sie an dem Thema reizt. Es geht ihr nicht um die reine Illustration oder naturalistische Darstellung des Schachspiels, vielmehr erweckt sie die Figuren zu lebendigen Personen und zeigt auf, wie aus dem Spiel Ernst oder wie aus Ernst Spiel werden kann.
Der Kampf gegeneinander, auch in ritualisierter Form, die Zerstörung des Gegners, wohl auch strategische und taktische Momente, all dies zieht sie zu einem bunten Kaleidoskop der Ansichten und Handlungen in Darstellungszyklen zusammen.
Da wird "Die Eröffnung" mit dem Öffnen einer Haustür symbolisiert. "Abwehr" durch gekreuzte Lanzen ins Bild gerückt oder "Drei Bauern" wie Teile eines Ährenfeldes zur Gruppe angeordnet.
Zitate aus der Einführung von Dr. Johannes Spallek im Ausstellungskatalog "Elke Rehder - Bilder, Grafik, Bronzen". Stormarnhaus, Bad Oldesloe, 1994. Weitere Informationen zu diesem Ausstellungskatalog finden Sie auf meiner Homepage Seite Atelier Elke Rehder